Für die einen war und ist Franz Kafka ein verstörender, schwer lesbarer Autor, für andere wiederum das literarische Maß, an dem jedes weitere Werk zu messen ist. Wie auch immer man zu ihm steht: Mit seinen Romanen und Erzählungen hat er eine Atmosphäre und eine Sicht auf Individuum und Gesellschaft geschaffen, die weltweit als kafkaesk bezeichnet werden.
Am 3. Juni 2024 jährt sich nun zum 100. Mal Kafkas Todestag. Dies nahmen zwölf Salzburger Autorinnen und Autoren – allesamt Mitglieder der GAV (Grazer Autorinnen und Autorenversammlung) – zum Anlass, sich mit Leben und Werk dieses einzigartigen Schriftstellers zu beschäftigen und literarisch darauf zu reagieren. Herausgekommen ist eine spannende Anthologie mit Erzählungen, Essays, Gedichten und Kurzprosa, die zeigt, wie nah uns heute noch Kafka und seine Welt stehen. Gleichzeitig mag die Sammlung zeitgenössischer literarischer Fortschreibungen anregen, sein Werk neu oder auch zum ersten Mal zu lesen.
Der Bruder des Verbrechers, des verurteilten Kindermörders, geht in Konzerte und Ausstellungen wie alle anderen. Öffentlich wäscht er sein Auto. So, als ob er nicht der Bruder des Verbrechers wäre. Täuscht eine Normalität vor, die es nicht mehr gibt. Täuscht die anderen damit aber nicht. Sie wissen, wer er ist. Wessen Fleisch und Blut. Und wessen Geistes.
Die Mutter des Verbrechers hat sich wenigstens versteckt, zurückgezogen hinter Vorhänge und Mauern. Das gibt manchen das Recht, sie von Zeit zu Zeit hervorzuzerren. Vor den Vorhang, wie man sagt.
Aber jemand, der sich nicht versteckt, macht es ihnen schwer, sich seiner zu bemächtigen. Sie werden ihn verschwinden lassen müssen, den Bruder des Mörders, der täglich die Straße entlang geht und das Sonnenlicht nicht scheut.
Der Bruder des Mörders, das bin ich. Lebenslang. Wer weiß, wie viele Brüder dieser Art es gibt. Jedenfalls täglich mehr. Wir sind nicht beliebt, obwohl wir bald die Mehrheit bilden werden.
Ich bin Theologe, darum kann ich vom Bösen nicht loskommen. Ich klebe förmlich daran. Es ist wie die zweite Seite einer Medaille, sie gehört auch dazu. Oder eine Gussform: Das Gute überformt das Böse oder umgekehrt. Ganz gleich, wie die Vergleiche ausfallen, ein Gott lässt sich zwischen das Böse und uns schieben, er ist unsere Spielfigur, hinter der wir in Deckung gehen, die wir vorschieben, um das Böse immer neu zu erforschen und herauszufordern.
Religion ist ja eine differenzierte, weit fortgebildete Form der Menschenverachtung. Denn er genügt nicht, der Homo sapiens, die Krone. Die Gattung braucht noch jemand, der ihr die Krone ordentlich zurechtrückt oder sie ihr entzieht. Ihr mit der Krone eins überzieht. Sich zwischen sie und ihresgleichen schiebt, sie erhöht oder degradiert.
Auf diese Suche nach Schuld und Schuldigen machen sich die Spezialisten, die Theologen. Ich bin einer aus der langen Reihe. Kein produktiver, ein nachspürender. Ein trainierter Spürhund, der weiß, dass er einer ist.
Ich nutze es produktiv, das Böse, ich lebe davon. Domestiziere es und halte es als Wachhund und zur Einschüchterung. Manchmal mache ich es scharf. Gott ist kein Menschenfreund. Ich auch nicht. Und Gott muss man auch nicht mögen, es genügt, ihn zu fürchten. So wie mich.
Was heißt hier „Nutztiere“? Nutztiere sind selten, ganz wenige Arten, die sich dafür eignen, benutzt, genutzt, ja ausgenutzt zu werden, der Großteil existiert nur für sich, ist egoistisch, selbstverliebt, ohne Nutzen, führt ein reines Dasein nur für sich, Fliegen etwa. Insekten ohne erkennbare Zweckbindung. Selbstbezogen und gemein sind sie. Sie produzieren nichts, was uns dienen könnte.
Ich liebe Fliegen. So nutzlos. So einfach zu töten, ohne Gewissensbisse. Ohne größeres Aufsehen oder Widerstand zu erregen. Kein Tierschützer widmet sich dem Schicksal von Fliegen, Gesetzesparagraphen wurden für sie vermutlich noch nie bemüht. Es sind Tiere ohne Gesicht, ohne erkennbare Identität. Wer außer Kinderbuchautoren gibt schon Insekten einen Namen? Wer vergleicht sich mit ihnen? Wem taugen sie zum Beispiel? Zum Vorbild? Wer führt sie im Schilde, wofür auch immer? Der Herr der Fliegen ist der Teufel, heißt es. Sie herrschen über jeden Misthaufen und landen, wo sie wollen. Die Anzahl der Misthaufen hat sich allerdings stark reduziert, aber nicht der Mist.
Essen kann man vieles. Natürlich auch Fliegen. Aber wozu, wenn es Besseres gibt? Hunde etwa und Katzen. Gerade der vielbeschworene angebliche Nutzen letzterer hält sich in Grenzen, wenn die Mäuse aus dem Haus sind.
Die nützlichsten Tiere werden nicht gegessen, sie sitzen im Darm und helfen beim Verdauen. Millionenfach. Unbedankt. Unerkannt. Ohne im Scheinwerferlicht zu stehen. Überhaupt nicht im Licht lebenslang. Wir sind ihre Paten, ohne Patenschaft übernommen zu haben. Ihr Gnadenhof. Und leben auch von ihren Gnaden. Gnädigste, so sollten wir sie nennen. Von ihnen gibt es keine lustigen Videos im Internet. Und niemand verdient an ihnen. Hunde und Katzen sind rentabler.
Gewöhnliche Nutztiere sind Sklaven, übertölpelte Lebewesen, Art- genossen zur Stützung einer anderen Art, meistens unserer.
Wir sind ihre Schmarotzer. Ihre Unart-Genossen. Eben, keine Brüder und Schwester
Auch nicht der Fliegen. So sehr sie uns auf die Pelle rücken, um die Nase schwirren, uns vor Augen halten, dass wir vergängliches Fleisch sind.
Christoph Janacs & Fritz Popp